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Was geschieht mit den Christen in Israel?

Hunderttausende christliche Pilger aus der ganzen Welt pilgern jährlich nach Jerusalem, Nazareth oder Bethlehem. Doch der Bevölkerungsanteil der in Israel lebenden Christen sinkt ständig. Gleichzeitig identifizieren sich viele israelische Christen mehr und mehr mit dem jüdischen Staat. Ein Widerspruch?

Von Daniela Segenreich

Die christlichen Pilger gehen auf den Spuren Jesu die Via Dolorosa entlang, schreiten durch das grosse Tor der Grabeskirche in Jerusalem und sehen, wo Jesus auf dem Wasser des Sees Genezareth gewandelt ist. Christen haben in Israel Religionsfreiheit, und die Kirchen vieler christlicher Ausrichtungen besitzen und verwalten in Jerusalem und anderen Städten ihre Kirchen, Klöster und Patriarchate. Dennoch ist der Anteil der Christen im Land und in der Region verschwindend gering.

Im gesamten Nahen Osten, wo das Christentum tief verwurzelt ist, waren Anfang des letzten Jahrhunderts noch etwa ein Drittel der Bewohner Christen. Aufgrund von Kriegen und Verfolgung, nicht zuletzt auch wegen der jüngsten Konflikte im Irak und in Syrien, sind es heute weniger als ein Zehntel. «Christen erfahren einen physischen und spirituellen Genozid hier im Nahen Osten! Das betrifft nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Kultur, ihre Sprache und Tradition», wettert Shadi Khalloul, der in Israel vor einigen Jahren die ICAA, eine Organisation zur Erhaltung und Wiederbelebung des christlichen und insbesondere des aramäischen Glaubens und seiner Kultur ins Leben gerufen hat.

Bildung als Kapital

Auch im Heiligen Land nahm der Bevölkerungsanteil der Christen im letzten Jahrhundert ständig ab und liegt derzeit bei 1,7 Prozent. Markus Stefan Bugnyar, Rektor des Österreichischen Hospizes in Jerusalem, sieht Anfeindungen seitens der muslimischen Araber und die westliche Ausrichtung der christlichen Araber als eine der Ursachen für die Abwanderung der Christen. Auch die die bessere Ausbildung spiele dabei eine Rolle: «Es gibt hier ein ausgezeichnetes Privatschulwesen, das Ende des 19. Jahrhunderts von den Franziskanern und anderen Geistlichen eingerichtet wurde, um beim Aufbau der Gesellschaft in der Region zu helfen.» Der Abschluss an einer dieser prestigereichen Privatschulen gelte als Eintrittskarte für beinahe jede europäische Universität. Überdies hätten viele Christen in Israel hohe Positionen in Politik und Wirtschaft inne und damit die finanziellen Mittel, ihre Kinder im Ausland studieren zu lassen.

Ein weiterer Hauptfaktor für die schwindende christliche Repräsentanz im Heiligen Land ist wohl auch die im Vergleich zu den israelischen Muslimen und den Juden recht geringe Geburtenrate bei den christlichen Familien. «Doch da darf man sich nicht täuschen lassen. Absolut hat die Zahl der Christen hier in Israel auf jeden Fall zugenommen», meint Bugnyar. Und so beherbergt Israel die einzige christliche Gemeinde im Nahen Osten, die noch wächst.

Ein Mosaik von Konfessionen

Die arabisch sprechenden Christen in Israel gehören zum Grossteil der griechisch-katholischen und lateinischen sowie der griechisch-orthodoxen Kirche an. Weitere Konfessionen sind die Armenier, von denen viele ebenfalls arabisch sprechen, die Maroniten, Kopten, Protestanten, Baptisten, Evangelisten und andere kleinere christliche Gruppierungen, darunter russische Christen, die mit ihren Ehepartnern während der grossen Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre nach Israel kamen.

Die Kommunikation zwischen diesen vielen Gruppierungen funktioniert nicht immer reibungslos. So wird die Grabeskirche in Jerusalem von sechs verschiedenen christlichen Konfessionen verwaltet, wobei die griechisch-orthodoxe, die durch den Orden der Franziskaner vertretene römisch-katholische sowie die armenisch-apostolische Kirche federführend sind. Das führte in der Vergangenheit immer wieder zu Streitigkeiten und machte gemeinsame Entscheidungen, wie etwa eine Renovierung, unmöglich. Wegen dieser Uneinigkeit verwahrt seit Jahrhunderten eine alteingesessene muslimische Familie die Schlüssel der Kirche und trat auch immer wieder als Vermittlerin auf. Doch Rektor Bugnyar versichert, dass es inzwischen bei den örtlichen Oberhäuptern der Kirchen zu einem Führungswechsel gekommen sei und die neue Generation besser mit der komplexen Situation umgehen könne.

Keine festen Grenzen

Gleichzeitig gibt es häufig Mischehen zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen. Die Familie von Doris Haffawi lebt schon seit Generationen in Jaffa, und auch hier sind die Christen neben den über 13.000 Muslimen und etwa 30.000 jüdischen Israeli in der Minderheit. Die dreifache Mutter gehört zu den etwa 5000 arabischen Christen, die noch in der alten Hafenstadt leben. In ihrem recht luxuriösen Haus im alten Ajami- Viertel empfängt sie Touristengruppen, die etwas über christliche Araber – oder, wie sie präzisiert «christlich-palästinensische Araber» – in Israel erfahren wollen. Haffawi war ursprünglich griechisch-orthodox, doch sie heiratete in eine katholische Familie ein und trat zu deren Glauben über. Das schien nicht weiter problematisch: «Unsere Kinder haben es gut getroffen, sie können die orthodoxen und die katholischen Feiertage feiern und bekommen jedes Mal Geschenke», lacht sie.

Haffawis Zwillingssöhne beenden demnächst die letzte Klasse in der renommierten Tabeetha-Privatschule, eine christliche Einrichtung auf internationalem Niveau: «Viele Muslime sind stolz, wenn sie ihre Kinder dorthin schicken können», meint sie, «auch wenn sie dann zu Jesus beten müssen.» Sie selbst wurde schon mit achtzehn, gleich nach dem Schulabschluss, verheiratet, doch es war ihr ungemein wichtig, dass ihre Tochter einmal einen Beruf erlernt und damit demnächst zu den über sechzig Prozent der christlichen Frauen im Land gehört, die einen Bachelor-Abschluss haben.

Mit ihrem Leben in Israel ist die Mittvierzigerin recht zufrieden und will auch nirgendwo anders leben. Sie bestätigt zwar die These, dass viele junge arabische Christen im Ausland studieren: «Doch die meisten kommen dann wieder zurück», meint sie. «Es stimmt, dass es, was die Wirtschaft betrifft, für die jungen Leute nicht einfach ist, sich hier etwas aufzubauen, aber sie wollen trotzdem hier leben.» Wegen ihrer Angehörigen in Gaza würde Haffawi es lieber sehen, dass ihre Söhne nach der Schule nicht zur israelischen Armee gehen: «Und wenn einer von ihnen das doch unbedingt will, dann soll er die Uniform ausziehen, bevor er nach Hause kommt. Das würde sonst von den Muslimen hier im Viertel nicht gut aufgenommen.»

Die Heimat verteidigen

Shadi Khalloul dagegen kämpft seit Jahren vehement für das Recht der israelischen Christen, den Pflichtdienst bei der israelischen Armee absolvieren zu dürfen: «Wir wollen ein Teil der israelischen Gesellschaft sein und den Staat beschützen, damit wir hier weiterhin in Frieden leben können!» In der Armee oder wenigstens im nationalen Zivildienst gewesen zu sein, ist auch eine Eintrittskarte in die Gesellschaft und ermöglicht oft einen besseren Start ins Berufsleben.

Der Akademiker lebt mit seiner Familie in Gush Chalav, im ländlichen Norden Israels: «Hier sind unsere Wurzeln und hier bleiben wir auch», meint er und betont, dass Gush Chalav kein arabisches, sondern ein altes maronitisches Städtchen ist. Die Maroniten, eine im vierten Jahrhundert von den Christen abgespaltene Sekte, sprachen, wie auch die Juden damals, Aramäisch – eine Sprache, die nur noch die älteren Maroniten beherrschen und die Khalloul wiederbeleben will. Er geht bei den Entscheidungsträgern der Regierung ein und aus, um seine Causa, die Erhaltung der aramäischen Kultur und Sprache, voranzubringen und die Lehrpläne in den Schulen an den christlichen Glauben anzupassen: «In den öffentlichen arabischen Schulen in der Peripherie lernen die christlichen Araber nur über den Islam, das muss geändert werden!»

Obwohl er bereits Familienvater ist, absolviert Khalloul weiterhin jedes Jahr den Reservedienst als Offizier in seiner Einheit bei den Fallschirmspringern. Mit seinen Bemühung zur Rekrutierung will er alle israelischen Christen ansprechen und scheint damit trotz wiederholter Anfeindungen aus den eigenen Reihen erfolgreich zu sein, denn es melden sich jedes Jahr mehr junge Leute aus den christlichen Gemeinden zum Militärdienst.

Khalloul und seine Mitstreiter betonen immer wieder, wie schwierig die Situation ihrer christlichen Brüder und Schwestern in anderen Ländern des Nahen Ostens sei. Während Christen im jüdischen Staat unter einem demokratischen Regime in Freiheit und Sicherheit leben dürften, würden ihre Glaubensbrüder im restlichen Nahen Osten verfolgt, in Ägypten, in Gaza und unter der palästinensischen Autonomiebehörde ebenso wie in Iran und Libanon, ganz zu schweigen vom Völkermord an Christen und Jesiden im Irak und in Syrien. Deshalb hält Khaloul es für wichtig, dass die Christen in Israel bei der Verteidigung des Landes, das auch ihre Heimat ist, mithelfen: «Wenn das Land uns Schutz und Sicherheit gibt, müssen wir ein Teil davon sein. Wir brauchen die israelische Armee, damit der extreme Islam nicht auch hier die Christen vertreibt!»

Dieser Artikel ist uns freundlicherweise durch die Verfasserin zur Verfügung gestellt worden. Er war am 24.7.2018 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.

Daniela Segenreich ist in Wien geboren und studierte dort an der Universität für angewandte Kunst. Sie ist seit 1986 als freie Journalistin tätig. 1988 wanderte sie nach Israel aus. Sie verfasst Beiträge für die Printmedien in Österreich, Deutschland und der Schweiz («Der Standard», «Die Welt», «NZZ», u. a.) und ist freie Mitarbeiterin des ORF. Zuletzt erschienene Bücher: «Zwischen Kamelwolle und Hightech. Starke Frauen in Israel» und «Fast ganz normal. Unser Leben in Israel» (letzteres gemeinsam mit ihrem Gatten Ben verfasst).

 

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