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Ein flüchtiger Gedanke?

Das Bild ging um die Welt, wurde millionenfach weitergeleitet, in sozialen Medien gepostet: Die Flagge Libanons, nachts projiziert auf die Fensterfront des Rathauses von Tel Aviv. Israel hat unmittelbar nach der grauenhaften Explosion von Beirut humanitäre Hilfe angeboten. Es wird Geld zur Unterstützung des Nachbarlandes gesammelt.

Ob diese Zeichen des Mitgefühls erwünscht sind oder angenommen werden, ist nicht geklärt. Geschuldet wohl der Tatsache, dass sich Israel und Libanon formell immer noch im Krieg befinden. Geschuldet mehr noch dem Umstand, dass die Hizbollah das Land in Geiselhaft genommen hat, genauso wie zuvor, über viele Jahre, Syrien. Beide Geiselnehmer sind eng mit dem Iran verbandelt. Unter diesen Umständen, und mehr noch angesichts der innerlibanesischen Verwerfungen (niemand weiss, wie sich die Dinge entwickeln), werden die israelischen Bekundungen der Anteilnahme keine Antwort aus einem klaren Kopf heraus erhalten. Von wem denn auch?

Die Schweiz hat als «Soforthilfe» vier Millionen Franken gesprochen. Für den Libanon, die «Schweiz des Nahen Ostens»! Ich will die «Höhe» dieses Beitrages nicht kommentieren. Geberkonferenzen werden versuchen, Schaden zu beheben, Not zu lindern. Die Uno wird Resolutionen verabschieden. An der Hizbollah werden Anklagen wie an Teflon abgleiten. Die mafiösen Eliten mögen selbst aus den Ruinen wieder Profit ziehen. Ja, alles scheint hoffnungslos, und ist es wohl auch. Die illuminierte Libanon-Flagge in Tel Aviv könnte Fanal für ein Nachdenken und Vorausdenken in Israel sein. Darüber, wie man künftig sein Verhältnis zum Nachbarn gestalten will. Israel wäre fähig, trotz Pandemie und innenpolitischem Knatsch in seiner Riesenregierung, trotz und ungeachtet der Hizbollah-Hydra, aus klarem Kopf heraus eine Idee zu entwickeln, wie es zwischen den beiden Ländern weitergehen soll. Jetzt wäre wohl der Moment gekommen, ein Wagnis einzugehen: Den Kriegszustand einseitig zu beenden und den Nachbarn ein Friedensangebot zu machen. Entwickelt aus der Erkenntnis heraus, dass beide Gesellschaften mehr verbindet, als sie sich bisher eingestehen wollten oder durften. Flüchtige Gedanken können weitergesponnen werden. Chancen, die sich in ihnen bergen, sollten genutzt werden.

Walter L. Blum, Zentralsekretär der Gesellschaft Schweiz-Israel.

 

Dieser Beitrag erschien im jüdischen Wochenmagazin «tachles» Nr. 32 vom 14. August 2020.

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